Friday, April 10, 2015

Narben


Unsere Narben erinnern uns daran, wer wir einst waren.

Neulich habe ich eine kurze Szene aus Roter Drache angesehen, einem der Hannibal-Lecter-Filme (ja, solche Filme schaue ich mir auchan und zu an). Darin sagte Anthony Hopkins diesen Satz und erinnerte mich damit an die symbolische Bedeutung von Narben.

Wer von uns hat keine Narben? Wessen Körper, abgesehen vielleicht von Babies, sind völlig unversehrt? Wer von uns kann sagen, dass er in seinem Leben keine Narben in Psyche, Herz und Seele davongetragen hat? Obwohl Lecter/Hopkins mit diesem Satz auf die Narben Bezug nahm, die Edward Nortons Charakter am Ende des Films auf vielen verschiedenen Ebenen aufwies, passte der Satz auch auf Joseph Fiennes Charakter, dessen fürchterliche Kindheitserfahrungen zahllose Narben hinterlassen hatten.

Und was ist nun eine Narbe genau? Es ist ein Mal, das dort entsteht, wo eine Wunde zugefügt wurde. Wo es Narben gibt, muss es also Wunden gegeben haben, und wo es Wunden gab, da war auch Schmerz. Wenn wir uns unsere physischen Narben ansehen, erinnern sie aus an längst vergangene Ereignisse, die ihre Spuren auf unserer Haut hinterlassen haben. Doch die meisten physischen Wunden tun uns nicht mehr weh. Sie bringen keine schmerzhaften Erinnerungen über uns, wenn wir sie betrachten. Etwas Bemerkenswertes gibt es da jedoch. Die Haut, die die Narbe trägt, ist nicht mehr unversehrt. Sie sieht jetzt ganz anders aus. Darin besteht die Narbe.

Mit unseren emotionalen, psychologischen oder spirituellen Narben verhält es sich etwas anders. Wir können sie nicht mit bloßem Auge sehen. Manchmal erkennen wir sie nur, weil wir fühlen, dass irgendetwas fehlt. Menschen, die beispielsweise wenig mit ihren Gefühlen im Kontakt stehen, tragen unheimlich viele Narben. Bei ihnen sieht man keine versehrte Haut. Was wir dagegen sehen können, sind die Folgen der Verletzung... ihr dysfunktionales Verhalten beim Ausdruck von Gefühlen. Solch eine Wunde kann man vielleicht mit der Narbe vergleichen, die die Amputation einer Gliedmaße hinterlässt. Natürlich kann man sich eine Prothese anfertigen lassen. Der Körper kann lernen, sie zu benutzen, und dem Benutzer so eine erstaunliche Bandbreite an Bewegungen ermöglichen. Ähnliches ist auch bei emotionalen Narben möglich... wenn die Person sich anhand der Absenz von etwas anderem ihrer Narben bewusst wird und wenn sie auch gewillt ist, die Prothese nutzen zu lernen, um ihre Beweglichkeit wiederherzustellen. Von diesem Beispiel abstrahiert muss die Person also gewillt sein, sich wieder mit ihren Gefühlen zu verbinden, um die normale Bandbreite an Emotionen zurückzugewinnen.

Ist das angsteinflößend? Zweifelsohne! Ist eine gehörige Portion Mut nötig, um ein solches Unterfangen anzugehen? Zweifelsohne! Ist es einfach? Gewiss nicht. Erfordert es Übung und eine konsequente Umsetzung? Ohne Frage! Ist Bewusstsein für das Selbst eine Voraussetzung? Ja! Bietet dieser Prozess Ihnen die Aussichten auf innere Freiheit und Wachstum? Definitiv!

Ist ein Leben ohne ihn möglich? Natürlich. Doch mit ihren unzähligen Narben wird die betreffende Person weiterhin geradezu gelähmt bleiben.

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